20 Shades of Province Die deutsche Provinz war um 1981 ein hervorragender Nährboden für abstruse Konzepte wie die von Autofick (einem Ableger der Gruppe Zimt), deren Trainingskassette Pogo: Ein Praktischer Leitfaden Klangbeispiele wie das Lied „Eiscafé“ enthielt, das eine kompakte Analyse der Jugend in Tübingen enthält und als drittbester deutscher Punksong gilt. Carambolage wiederum machten in Ton Steine Scherbens nordfriesischer Bandkommune Musik, die nicht nach Neuer Deutscher Welle (NDW) klang, sondern eher nach obskuren britischen DIY-Bands, für die Punk schlicht die Umverteilung der Popkultur nach unten bedeutete. Zur gleichen Zeit gründeten eine Handvoll Musiker in Limburg an der Lahn ein paar Bands, die Alfred Hilsberg als „Limburger Pest“, ein Plattenpaket bestehend aus Singles von Das Wirtschaftswunder und Die Radierer sowie der Flexidisc „Wo ist der Dom?“ unters Volk brachte. von Siluetes 61, einem Projekt von Tom Dokupil (der auch in allen anderen Bands dabei war), das (wie „Bauernlife“ von The Wirtschaftswunder) das Leben in der Domstadt mit ihrem unsichtbaren Dom zu einem munteren Anti-Kunst-Song verarbeitete. Hannover wiederum war groß genug für eine ordentliche Punkszene, die aus jugendlicher Rebellion nach und nach einen ewigen Junggesellenabschied vor Endzeitkulisse machte, den Hans-A-Plast schon 1981 für die Nachwelt festhielt. Dass die einzigen queeren Hits der sonst weitgehend heteronormativen Szene – „Tagebuch“ von Bärchen und Die Milchbubis und „Samen im Darm“ von den Cretins – ausgerechnet in Hannover entstanden, ist einer jener sympathischen Widersprüche, die die Frühphase des Punks auszeichnen. Ziggy XY kehrte der Stadt dennoch den Rücken, und die sperrige Fremdartigkeit seines Projekts Kosmonautentraum kann durchaus als Einwand gegen die Eindeutigkeit des aufkommenden „Deutschpunk“ verstanden werden. Spätestens die zweite LP (mit dem Antihit „Abschied“) holte Holger Hiller ein, der wiederum auf eigenen Platten und als Sänger des Palais Schaumburg die NDW-Avantgarde zu hoher kultureller Reife trieb. So oder so könnten seine Platten am anderen Ende einer von den Nazis nicht unterbrochenen Moderne entstanden sein. In ähnliche Gefilde wagten sich dank ihrer klassischen Gesangsausbildung auch die Brüder Udo und Gerd Scheuerpflug alias Die Zwei aus dem fränkischen Neuendettelsau. Ihre A-cappella-Single wurde von John Peel eingespielt und erschien auf dem Label des Berliner Pionier-Plattenladens Zensor, der auch an der Eigenveröffentlichung von Konstantin beteiligt war, mit der Max Goldt und Gerd Pasemann die Zeit überbrückten, in der sie aus vertraglichen Gründen den Namen Foyer Des Arts nicht verwenden durften. Düsseldorf ist so gründlich studiert, dass ich mich hier auf Family 5 und Male beschränken werde, die ich aber nicht vorenthalten möchte, weil „Tagein – Tagaus“ der beste Songtext ist, den Peter Hein bis heute geschrieben hat, und Male die erste „erste deutsche Punkband“ war, die echte Punkhits produzierte. Rassemenschen helfen armen Menschen haben den zweitbesten Bandnamen der NDW vom Plakat einer Wiener Katzenzuchtausstellung geklaut (für karitative Zwecke) und ihre zu Recht nicht mehr auffindbaren Singles sind viel zu abgefahren, um hier außen vor zu bleiben. In Marburg (an der Lahn) versuchte Ludger Andreas alias Exo Neutrino, Limburger Verhältnisse nachzubilden, indem er im Alleingang unter verrückten, wechselnden Namen Kassetten aufnahm. Seine einzige Single (als Lustige Mutanten) wurde tatsächlich in Limburg von Tom Dokupil produziert. Ebenso wie „Tagesschau“ von der Freiwilligen Selbstkontrolle (oder F.S.K.), die die bei deutschen Linken beliebte bierernste Medienkritik als heitere Popkritik neu zu erfinden versuchte. Neues Deutschland aus Kassel hinterließ lediglich ein Konzeptalbum über die deutsch-deutsche Teilung, auf dem „Muskulatur“ ein wenig aus dem Rahmen fällt, denn thematisch handelt es sich eigentlich eher um ein F.S.K.-Lied. Und während anderswo schon die Neue Deutsche Welle von der Bildfläche verschwand, taten sich in Hamburg-Bergedorf unter Anleitung von Felix Kubin diverse Kinder zusammen, um NDW-Underground zu spielen, was zu durchaus faszinierenden Missverständnissen führte, die sich unter Gruppennamen wie Die Egozentrischen 2 im Freundeskreis verbreiteten. In der Hamburger Innenstadt gingen Die Zimmermänner bereits der Frage nach, ob man Pop überhaupt auf Deutsch singen könne. Dass die dabei entstandene „deutsche Popmusik“ der Anständigkeit halber immer ihre Anführungszeichen behielt, unterscheidet sie wohltuend von der grauenhaften deutschen Popmusik, zu der sich heute jeder berufen fühlt.
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